zur Arbeitsweise

Olaf Raitzig erlernte nicht nur die Regeln der mittelalterlichen Notationssysteme, sondern befasste sich auch mit Quellenkunde, Paläographie und mathematischer Statistik. Er arbeitete mit dem Buch von Willi Apel „Die Notation der polyphonen Musik“, studierte die präzisen Machautübertragungen von Friedrich Ludwig und die vorhandene Literatur anderer Musikwissenschaftler.

Seine größte Aufmerksamkeit galt den Urschriften der Kompositionen. Von den rund fünfundzwanzig bekannten Quellen waren ihm einige sehr wichtige durch Kopien zugänglich, wie zum Beispiel die des „Codex Ivrea“.

Am Beispiel der wunderbaren und damals sehr berühmten Motette „Ida capillorum – Portio nature“ (die allgemein dem Musiker Egidius de Pusiex zugeordnet wird, von der Olaf Raitzig nach seinen Analysen aber eher vermutete, dass sie aus der Feder von Enricus Helene stammt), soll seine Arbeitsweise erläutert werden.

Ausgangspunkt sind alle Quellen in Form von Faksimiles und Informationen aus der Sekundärliteratur. Schon die Urschriften unterscheiden sich in einigen Passagen aufgrund musikalischer Modifizierungen an verschiedenen Orten oder durch fehlerhafte Niederschriften. Triplum, Motetus und Tenor der Motette aus der Quelle Ivrea beginnen wie abgebildet:

Triplum

Nachlass Triplum Iv7

Motetus

Nachlass Motetus Iv7

Tenor

Nachlass Tenor Iv7

Zunächst wurde eine Rohübertragung vorgenommen und dann eine „Collatio“ erstellt. Mit dem Begriff „Collatio“ bezeichnete Olaf Raitzig das zwischen Rohübertragung und Partitur liegende Arbeitsstadium. Hier werden die rhythmischen und melodischen Abweichungen zu einer Motette gesammelt, geordnet und diskutiert, die sich aus dem Vergleich der Quellen ergeben.

Der Übertragung liegt die Handschrift Ivrea zugrunde. Sie bildet den Kern der Collatio. Die Anordnung der Noten hat Olaf Raitzig entsprechend ihrer Zeitwerte tabellarisch ausgerichtet. Die einzelnen Taleae sind untereinander angeordnet, sodass der strukturelle Aufbau und die Isorhythmie sehr gut zu verfolgen sind. Abweichungen zur Lesart Ivrea wurden dabei in Ossiatakten mit ihren Quellangaben vermerkt.

Die Ligaturen wurden alle aufgelöst, sind aber nur über den textierten Stimmen durch Ligaturklammern gekennzeichnet. Für untextierte Tenores hat Olaf Raitzig auf die Klammerung verzichtet.

Beginn der Collatio

Nachlass Collatio Iv7

Anschließend wurde geprüft, welche Quellvariante für die Partitur am ehesten infrage kommt; eine aufwändige und verantwortungsvolle Aufgabe, die ein hohes kompositorisches Wissen voraussetzt und ein sehr gutes musikalisches Gespür erfordert.

Notenabschnitte anderer Quellen, die Teil der Partitur werden, sind in den Ossiatakten der Collatio in eckige Klammern eingeschlossen.

Das Ergebnis der Analyse wurde immer klanglich ausprobiert und erst nach erfolgreicher musikalischer Prüfung in die Partitur übernommen, „denn nur durch ein sinnvolles Experimentieren kann man sich allmählich den Sachverhalten nähern, über die uns die Quellen im Unklaren lassen.“

So entsteht eine Partitur, die sich inhaltlich optimal aus den verschiedenen Quellen zusammensetzt. Darüber hinaus ging es Olaf Raitzig darum, das Notenbild ansprechend und musikalisch sinnvoll zu präsentieren. Das schließt einen Vorschlag für ein geeignetes Tempo, das Setzen der Taktstriche und auch die Textunterlegung ein.

Beginn der Partitur

Nachlass Partitur Iv7

Heute existieren gut ausgebildete musikalische Ensembles, die mit Freude aus den Originalnoten singen und eigentlich keine Übertragung benötigen. Aus den genannten Gründen lohnt sich ein Blick in die Partituren aber auf jeden Fall. Die Motetten könnten damit noch schöner klingen.