zur ars nova

In den achtziger Jahren war Olaf Raitzig kurzzeitig Mitglied im Berliner Arbeitskreis für Musikmediävistik. Aus seinen Vorträgen stammen die folgenden Zitate, die seine Einstellung zur Kunst der ars nova und die Schwierigkeiten bei der Analyse der Motetten am besten wiedergeben.

Zitate zur Kunst der ars nova

Seit Wolf und Ludwig werden die Trecentisten bewundert und geliebt, vor allem aber sorgfältig herausgegeben und eifrig gepflegt. Es gibt eine große Menge schöner Plattenaufnahmen. Es hat sich aber auch eingebürgert, der „Natürlichkeit“ und dem „strömenden Melos“ der Italiener die „Strenge“ und „Gelehrtheit“ der Franzosen entgegenzusetzen, mit tadelndem Unterton, versteht sich. Ja, es geht bis zu Schimpfworten wie „gekünstelt“, „maniriert“ und „starre Schemata“. Zahlreiche italienische Komponisten und Theoretiker des 14. Jahrhunderts sahen das anders, und Petrarca war ein Verehrer von Philippe de Vitry. Ich sagte mir: die Italiener sind angekommen, die Franzosen brauchen unsere Zuwendung.


Von den polyphonen Welten hat sich die ars antiqua als am wenigsten problematisch für die Aufführungspraxis erwiesen. Melodik und Rhythmik bleiben im Allgemeinen recht übersichtlich, die Texte sind weitgehend syllabisch, und für das Ohr sind gerade die frühen Motetten die reinste Freude. Weitaus problematischer erweist sich die Erarbeitung einer ars nova Motette. Hier können die Interpreten nicht auf Erfahrungen aus der heute üblichen Musikpraxis zurückgreifen. Sie werden mit ausgedehnten Melismen, mit komplizierten harmonischen Zusammenhängen und vor allem mit völlig neuartigen rhythmischen Problemen konfrontiert. Offenbar sind die ars nova Motetten aus diesem Grund die Sorgenkinder der gegenwärtig existierenden einschlägigen Ensembles, wie ich zu meiner großen Bestürzung allmählich feststellen musste.


Von den rund hundert überlieferten ars nova Motetten (ich rechne hierzu auch die Werke der Mss. Chantilly und Modena) gibt es eine kleine Anzahl, deren Schönheit besonders überwältigend ist. Ich werde sie hier nennen in der Hoffnung, dass das eine oder andere Mitglied unseres Arbeitskreises ihnen seine Aufmerksamkeit zuwendet. 

Die Reihenfolge richtet sich nach ihrer Überlieferung in Ivrea, bei Machaut und in Chantilly.

Apta caro – Flos virginum
Ida capillorum – Portio nature
Post missarum – Post misse
Martyrum gemma – Diligenter
Almifonis melos – Rosa
Apollinis – Zodiacum
Zolomina – Nazarea
Tant a soutille – Bien pert
Mon chant – Qui doloreus
Qui es promesses – Ha, Fortune
Li enseignament – De tous les biens
Trop ay dure destinee – Par sauvage
De bon espoir – Puisque la douce
Pictagore – O terra sancta
Multipliciter amando – Favore 


Mich selbst hat die ars nova Motette schon sehr früh besonders stark angezogen, als ich sie nur aus den Interpretationen anderer kannte und vom Wesen ihrer Struktur noch nichts ahnte. Als ich begann, mich intensiver mit diesem Gebiet zu befassen, war es mir umso unverständlicher, mit welch kühler Distanz man ihr in der Fachpresse begegnet. Heute ahne ich, woran das liegen mag: ihr musikalisches Wesen kann nicht am Notentext erkannt werden, diese Motetten leben nur vom Gesang. Es ist sehr anrührend zu lesen, in welchem Maße solch große Forscher wie Ludwig und Besseler von unerwarteten Schönheiten überrascht wurden, als sie der Aufführung von Motetten beiwohnten, deren schriftliche Überlieferung sie selbst am allerbesten kannten.

Zitate zur wissenschaftlichen Analyse

  • Den Ausgangspunkt für die Erarbeitung einer Motette bildet ein akzeptabler Notentext. Gleich hier steht man aber sofort vor schwierigen und oft unlösbaren Problemen. Bereits die Quellen sind, was ihren Inhalt betrifft, fehlerbehaftet. Sie sind mehr oder weniger sorgfältig geschrieben und vor allem allen Arten äußerlicher Zerstörung unterworfen. Wenn es das Glück will, dass ein Werk mehrfach überliefert ist, so gibt der Vergleich bisweilen mehr Rätsel auf als er beseitigt. Handelt es sich bei irgendeiner Variante um eine bewusste Änderung oder um ein Versehen? Oftmals hilft hier der Vergleich isorhythmischer Entsprechungen weiter, aber der Grad der Isorhythmie sinkt normalerweise mit der Frühe der Entstehungszeit.
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